Doppeldiagnose: bekannt, gefürchtet und oftmals ungelöst
Eine Doppeldiagnose ist das gemeinsame Auftreten einer Abhängigkeit und mindestens einer psychischen Störung.
Dies ist eigentlich nichts Neues. Schon 1911 bemerkt Prof. Dr. Eugen Bleuler, dass «… der haltlose Schizophrene leicht zum Trinker wird.»
Zur Verwendung des Begriffs in seiner heutigen Bedeutung (Kombination psychischer Störungen und Sucht) kam es jedoch erst Ende der Achtzigerjahre. Die Behandlung dieser Patientengruppe war noch nie einfach. Problematisch sind diverse Unsicherheiten, die sich aus kontradiktorischen Forderungen hinsichtlich der Therapieempfehlungen für die psychische Störung auf der einen Seite und der Sucht auf der anderen Seite ergeben. Während Menschen aus dem schizophrenen Formenkreis eher eine schützende Alltagssituation brauchen, benötigen suchtkranke Menschen eher ein Setting, welches sie mit den Anforderungen des Alltags konfrontiert. Oft verschlimmert sich die eine Störung, je mehr man die andere angeht.
Leider werden diese Patienten in der Folge wie «heisse Kartoffeln» von einer Institution zur nächsten weitergereicht und bleiben letztlich unbehandelt. Kaum verwunderlich, dass diese Klientengruppe an Häufigkeit zunimmt. Gerade in den stationären Drogentherapien sind Klienten mit Doppeldiagnose inzwischen fast mehr die Regel als die Ausnahme. Die ambulanten Stellen haben ihr Angebot in den letzten Jahren erweitert und verbessert. Nur noch diejenigen, die es ambulant auch nach mehreren Versuchen nicht schaffen, sich zu stabilisieren, lassen sich heute noch auf eine stationäre Therapie ein oder sind durch die Umstände dazu gezwungen. Oft sind dies Doppeldiagnosepatienten, die eben nicht nur mit ihrer Suchterkrankung einen Weg finden müssen. Sie leiden meist auch unter einer Depression, einem ADHS, einem Borderlinesyndrom oder einer Schizophrenie.
Die Erfahrung der letzten Jahre hat gezeigt, dass sich der Zustand dieser Menschen von Jahr zu Jahr verschlimmert, wenn sie keine adäquate Behandlung bekommen. Meiner Meinung nach sammelt sich diese Patientengruppe nicht nur deshalb in den stationären Drogentherapien, weil sie Schwierigkeiten haben, sonst irgendwo aufgenommen zu werden, sondern vor allem deshalb, weil sie hier erstmals über einen längeren Zeitraum hinweg so etwas wie Kontinuität, Ordnung und konstante Beziehungen erfahren.
In den letzten 25 Jahren therapeutischer Arbeit mit dieser Klientel in der casa fidelio wurde für uns klar, dass diese Menschen eine lange Zeit brauchen, um sich im Alltag zu stabilisieren. Erst dann und auf dieser Basis können sie mit der eigentlichen therapeutischen Arbeit beginnen. In dieser Zeit ist es unumgänglich, dass genügend Vertrauen zur Institution und zum behandelnden Therapeuten aufgebaut werden kann. Therapie- und damit Beziehungsabbrüche untergraben diesen Prozess nachhaltig. Gelingt es jedoch, eine solche Basis miteinander zu schaffen, sind erstaunlich positive Entwicklungen möglich. Aus so mancher letzten Chance wurde so ein Neustart in ein Leben, das zwar nicht immer ganz Gesellschaftskonform, aber zumindest selbstbestimmt und frei von staatlichen Interventionen verläuft.
In der casa fidelio hatten Männer mit Doppeldiagnose schon immer mehr als eine Chance, weil wir wissen, dass Doppeldiagnosen mindestens doppelt so viele Chancen brauchen wie alle anderen. Und ich bin sicher, dass sich daran auch in Zukunft nichts ändern wird.
Von Peter Forster, Leiter Therapie der casa fidelio